Analphabeten in Deutschland?
Menschen, die nicht lesen und schreiben können, leben überwiegend in den Ländern der Dritten Welt. In Ländern, in denen es sich nur wenige Eltern leisten können, ihre Kinder in die Schule zu schicken. In Ländern, in denen das Verdienen des Lebensunterhalts Priorität hat und in denen der Alltag keine Zeit dazu lässt, gemütlich in Büchern zu schmökern.
In einer modernen und fortschrittlichen Industrienation wie Deutschland, dem Land der Dichter und Denker, würden vermutlich die wenigsten Analphabeten vermuten. Doch auch hierzulande ist die Zahl derer, die das Lesen und das Schreiben nicht beherrschen, erschreckend hoch.
Analphabeten in Deutschland?
Mal ist der Zeitpunkt ungünstig, mal ist die Lesebrille gerade nicht zur Hand: Betroffene sind oft sehr kreativ, wenn sie eine Ausrede dafür brauchen, warum sie einen Text nicht lesen, ein Formular nicht ausfüllen oder sich im Restaurant nicht selbst etwas von der Speisekarte aussuchen möchten.
Während Kinder und Jugendliche oft noch mit Trotz reagieren, wächst im Erwachsenenalter die Scham. Dabei sind Menschen, die nicht lesen und schreiben können, keineswegs eine seltene Ausnahme. Der Bundesverband für Alphabetisierung und Grundbildung beziffert sich die Zahl der Analphabeten in Deutschland auf rund 7,5 Millionen. Anders ausgedrückt heißt das, dass hierzulande trotz Schulpflicht fast jeder Zehnte das Lesen und Schreiben nie richtig gelernt hat. Fast alle Betroffenen sind dabei sogenannte funktionale Analphabeten.
Funktionaler Analphabet bedeutet, dass die betroffene Person über rudimentäre Lese- und Schreibkenntnisse verfügt. Einzelne Wörter, kurze Sätze und sehr einfache Texte kann sie meist lesen und verstehen. Sobald die Sätze aber länger werden, wird es schwierig.
Die betroffene Person kommt ins Straucheln, muss eine zusammenhängende Passage mehrere Male lesen und kann selbst dann oft nicht nachvollziehen, was sie da gerade gelesen hat. Weiter als über das Level eines Drittklässlers gehen die Kenntnisse meistens nicht hinaus.
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Das dritte Schuljahr als Meilenstein
In sehr vielen Fällen stammen funktionale Analphabeten aus Familien, in denen die Bildung eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat. Oft lassen sich mangelnde Lese- und Schreibkenntnisse von Generation zu Generation zurückverfolgen. In vielen Haushalten gab es nur wenige oder überhaupt keine Bücher, den Kindern wurden keine Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen und die Eltern legten keinen großen Wert darauf, dass ihre Kinder eine höhere Schule besuchen.
Dabei sind es gerade die ersten Lebensjahre, in denen die wichtigen Grundsteine gelegt werden. Rund die Hälfte aller Kinder kann bei der Einschulung schon ein paar Buchstaben und Wörter lesen und schreiben. Aber auch die Kinder, die ohne Vorkenntnisse in die Schule kommen, holen das Wissen bis zur dritten Klasse meist auf. Gleichzeitig ist das dritte Schuljahr ein wichtiger Meilenstein.
Ab jetzt wird nämlich vorausgesetzt, dass ein Kind alphabetisiert ist. Das Kind muss ab diesem Zeitpunkt also das Alphabet können und in der Lage sein, Texte zu lesen, zu verstehen und selbst zu schreiben.
Durch diese Voraussetzung beginnt für einige Kinder aber ein Teufelskreis. Der Lernstoff, der nun folgt, baut auf dem vorhandenen Wissen auf. Konnte sich ein Kind die erwarteten Lese- und Schreibkenntnisse aber nicht aneignen, kann es dem Unterricht immer weniger folgen. Dabei sind es nicht nur die Diktate oder die Aufsätze im Deutschunterricht, die Schwierigkeiten bereiten. Auch in allen anderen Fächern wird gelesen und geschrieben, selbst wenn es nur Textaufgaben im Matheunterricht sind.
Die Lehrer bemerken zwar, wenn einzelne Schüler Probleme haben und nicht mitkommen. Allerdings fehlt oft einfach die Zeit für eine gezielte, individuelle Förderung. Um den Frust nicht noch größer werden zu lassen, vergeben einige Lehrer dann bessere Noten. Aus einer 5 oder gar einer 6 wird gerade so noch eine 4, damit der Schüler wenigstens das Klassenziel erreicht.
Was gut gemeint ist, macht es für den betroffenen Schüler aber letztlich nur noch schwerer. Die Lücken bleiben nämlich bestehen und im nächsten Schuljahr werden die Hindernisse noch größer. Würde der Schüler schon früh eine Klasse wiederholen, hätte er hingegen die Chance, das fehlende Wissen aufzuholen.
Für funktionale Analphabeten bleiben oft nur Hilfsjobs übrig
Viele Schüler, die in der Schule irgendwann einfach nicht mehr mitkommen, werden früher oder später auf eine Sonderschule versetzt. Selbst hier reichen die Fördermöglichkeiten aber oft nicht aus, um die Wissenslücken zu schließen.
Trotzdem beenden die meisten funktionalen Analphabeten ihre Schullaufbahn mit einem Schulabschluss. Dieser ist zwar oft nicht sehr gut, am Ende zählt aber ohnehin nur das erreichte Ziel. Auch was die Berufstätigkeit angeht, sind Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, nicht zwangsläufig im Nachteil. Dies belegt eine Studie der Uni Hamburg, die 2012 veröffentlicht wurde.
Daraus geht hervor, dass über die Hälfte aller funktionalen Analphabeten berufstätig ist. Allerdings handelt es sich dabei überwiegend um Tätigkeiten, die keine Berufsausbildung erfordern oder nach einer kurzen praktischen Anlernphase ausgeübt werden können. Klassische Beispiele sind der Hilfsarbeiter in der Produktion, die Küchenhilfe, der Bauhelfer, die Reinigungskraft und ähnliche Jobs, bei denen das Lesen und Schreiben – wenn überhaupt – nur am Rande zum Berufsalltag gehört. Positiv ausgedrückt handelt es sich um Jobs, bei denen der Arbeitnehmer mit Tatkraft und praktischer Arbeitsleistung glänzen kann.
Zum Lernen ist es nie zu spät
Viele Betroffene verschweigen sehr lange, dass sie nicht oder nicht richtig lesen und schreiben können. Auf der einen Seite schämen sie sich, gerade weil Lese- und Schreibkenntnisse für die meisten selbstverständlich sind. Auf der anderen Seite wird der Leidensdruck immer größer.
Manchmal ist es aber auch ein Schlüsselerlebnis, das den Betroffenen dazu bringt, etwas zu ändern. Ein solches Schlüsselerlebnis kann das eigene Kind sein, das nach Hilfe bei den Hausaufgaben fragt, oder eine Schulung im Job, an der kein Weg vorbeiführt. Manchmal sind es aber auch ganz banale Dinge wie beispielsweise der Wunsch, auch endlich das Internet und soziale Netzwerke nutzen zu können. Grundsätzlich gilt, dass es niemals zu spät ist, das Lesen und Schreiben noch zu lernen.
Je älter der Betroffene ist, desto länger wird es zwar dauern. Aber die Mühen zahlen sich am Ende aus. Die Kursteilnehmer, die sich für einen Lese- und Schreibkurs entscheiden, sind im Durchschnitt zwischen 30 und 50 Jahre alt. In der Gruppe muss niemand Angst haben, ausgelacht zu werden, denn alle sitzen im gleichen Boot und alle haben das gleiche Ziel. Nicht selten entwickeln sich beim gemeinsamen Lernen Freundschaften, die auch nach Kursende noch lange erhalten bleiben. Dann hat sich das späte Lernen gleich doppelt gelohnt.
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