Tsundoku: Warum wir mehr Bücher kaufen als wir lesen

Tsundoku: Warum wir mehr Bücher kaufen als wir lesen

Wann hast du zum letzten Mal in einer Buchhandlung gestöbert und den Laden wieder verlassen, ohne etwas zu kaufen? Viele Menschen können das nicht. Sie entdecken immer ein Buch, das ihr Interesse weckt, einen Klappentext, der sie anspricht, einen Autor, den sie gerne mögen, oder ein Cover, das sie begeistert. Und in diesem Moment ist das Gehirn für einen kurzen Moment abgeschaltet.

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Tsundoku Warum wir mehr Bücher kaufen als wir lesen

Es blendet aus, dass zu Hause noch ein ganzer Stapel ungelesener Bücher wartet, bei dem die Story, der Klappentext, der Autor oder das Cover genauso neugierig gemacht hatten.

Dieser Stapel ungelesener Bücher, den Buchfans übrigens kurz SUB nennen, wächst auf diese Weise stetig.

In Japan gibt es dafür einen eigenen Begriff, nämlich Tsundoku. Tsunde-Oku meint, Dinge für einen späteren Zeitpunkt aufzuheben. Dokusho bedeutet, Bücher zu lesen.

Beide Begriffe miteinander verbunden, führt zum Phänomen Tsundoku, das viele von uns namentlich vielleicht nicht kennen, aber eben praktizieren. Schließlich gibt es so viel gute Lektüre. Nur fehlen uns im Alltag oft die Zeit und die Lust, uns ihr auch wirklich zu widmen.

Bücher als Ausdruck der eigenen Identität

In Großbritannien gibt es den Begriff Bibliomania. Auch er steht für das Horten von Büchern. Im Unterschied zu Tsundoku ist Bibliomania aber eher negativ behaftet. Kein Wunder also, dass viele Bücherfans öffentlich mit Tsundoku kokettieren.

In den sozialen Medien präsentieren sie stolz ihre großen Stapel ungelesener Bücher und zeigen, was und wie viel sie lesen wollen. Gleichzeitig möchten sie andere dazu anregen, auch Bücher zu kaufen.

Kaum jemand stört sich daran, dass Leute zu viele Bücher kaufen. Selbst in Zeiten, in denen Minimalismus und Nachhaltigkeit große Themen sind, bilden Bücher die große Ausnahme.

Anders als zum Beispiel Kleidung, Schuhe, Schmuck oder Deko sind Bücher offenbar etwas, von dem wir nie zu viele haben können.

Sozialpsychologen schreiben Büchern einen Aspekt der eigenen Identität zu. Durch Bücher zeigen wir etwas von uns, sie haben einen gewissen Status. So legen Leute zum Beispiel aktuelle Bestseller oder eindrucksvolle Bildbände scheinbar zufällig auf den Couchtisch, wenn Besuch kommt.

Andere füllen große Regale mit unzähligen Büchern. Denn eine Bücherwand steht für Intellekt und eine gute Bildung. Selbst wenn die heimische Bibliothek letztlich nur Deko ist, ermöglicht sie, uns in einer bestimmten Form zu präsentieren.

Großes Interesse, aber wenig Lesezeit

Eine aktuelle Studie ergab, dass sich fast 60 Prozent der Deutschen für Bücher interessieren. Knapp 40 Prozent lesen mindestens einmal pro Woche in einem Buch und über 25 Prozent hätten gerne mehr Zeit zum Lesen.

Rund 20 Prozent der Befragten gaben an, jeden Monat mehrere Bücher zu kaufen. Auf der anderen Seite erklärten aber über 40 Prozent, dass sie nur sehr selten oder gar keine Bücher lesen.

Generell haben Bücher ein positives Image und diese guten Attribute möchten wir für uns vereinnahmen. Viele von uns kommen irgendwann in ein Umfeld, in dem sich das Leseverhalten ähnelt.

Die sozialen Medien machen uns dann immer wieder auf neue Werke aufmerksam. Auf diese Weise machen Bücher einen Teil unserer sozialen Identität aus. Denn wir wählen Bücher, die zu unseren Werten passen und mit denen wir uns von anderen abgrenzen.

Dabei kann es um einzelne Genres oder bestimmte Autoren gehen. Einen vergleichbaren Mechanismus gibt es auch bei Musik. So heben wir zum Beispiel Schallplatten und CDs unserer Lieblingskünstler auf, obwohl wir Musik längst auf anderen Wegen konsumieren.

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Die Buchhandlung als Inspirationsquelle

Mit Blick auf Bücher spielt der Fachhandel eine große Rolle. Das Papierbuch hält sich, weil wir zum einen zeigen wollen, was wir lesen.

Zum anderen ist das Lesen in einem richtigen Buch ein haptisches Erlebnis, das wir nicht missen wollen. Umfragen zufolge haben gut 60 Prozent der Deutschen kein Interesse an E-Books.

Doch das haptische Erlebnis fängt schon im Buchladen an. Wir schlendern durch das Geschäft, stöbern in den Regalen, nehmen Bücher in die Hand und blättern darin. Wir riechen, tasten und fühlen die Bücher.

Selbst wenn unser SUB schon groß ist, haben wir kein schlechtes Gewissen. Denn den Buchhandel empfinden wir als ein gutes Gewerbe, bei dem keine Armut, Ausbeutung oder gar Kinderarbeit im Raum stehen, sondern ein kreatives Schaffen mit einer altehrwürdigen Tradition.

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Tsundoku und die Hoffnung auf Zeit

In gewisser Hinsicht schwingt bei Tsundoku ein Hauch Selbstbetrug mit. Kaufen wir mehr Bücher, als wir lesen (können), wünschen wir uns Zeit, die vermutlich nicht kommen wird.

Je länger ein Buchkauf zurückliegt, desto unwahrscheinlicher ist, dass wir dieses Buch irgendwann doch noch lesen werden.

Andererseits hätten wir eben gerne den Raum, mehr zu lesen, um auf diese Weise kurz abzuschalten und dem Alltag zu entfliehen. Doch weil das im Alltag oft nicht klappt, verschieben sich in der Folge die Prioritäten.

Es geht nicht mehr darum, dass wir ein Buch gekauft haben, weil es damals unser Interesse geweckt hat. Stattdessen wird der SUB zum Symbol für die Sehnsucht nach einer Zeit, in der wir so wenig anderes zu tun haben, dass wir uns bequem zurücklehnen und in den Büchern schmökern können.

Positive Effekte von Tsundoku auf die Psyche

In den meisten Fällen wirkt sich das Sammeln von Büchern positiv auf die Psyche aus. Die Wissenschaft hat herausgefunden, dass Menschen, die etwas sammeln, glücklicher sind.

Gleichzeitig belegen Studien, dass Bücher die Entwicklung von Kindern positiv fördern. Das gilt selbst dann, wenn sich die Bücher nur in der unmittelbaren Umgebung befinden, ohne dass sie gelesen werden.

Einer anderen Studie zufolge sind Menschen, die viele Bücher kaufen, empathischer als Leute, die nie Bücher kaufen.

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Bei Tsundoku kommt es letztlich auf die eigene Haltung an. Wenn uns beim Anblick unseres SUB ein ungutes Gefühl beschleicht, weil wir einen gewissen Druck verspüren oder gefrustet sind, immer noch keine Zeit zum Lesen gefunden zu haben, ist das natürlich nicht förderlich.

Beschert uns der Buchkauf hingegen einen Glücksmoment und steigt die Vorfreude auf die spannenden Geschichten, die im SUB auf uns warten, profitiert unsere Psyche von der Aussicht auf das genussvolle Lesen.

Und dieser gesunde, positive Effekt ist die beste Begründung dafür, warum wir oft viel mehr Bücher kaufen, als wir in Wahrheit lesen.

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Gerd Traube, studierter Germanist und Buchautor, geboren 1966, Michaela Lange, geboren 1978, Deutschlehrerin und Privatautorin, Canel Gülcan -Studentin Lehramt Deutsch/Germanistik, sowie Ferya Gülcan Redakteurin und Betreiberin dieser Seite, schreiben hier für Sie/euch alles Wissenswerte zum Thema Schreiben. Ob für Schule, Beruf, angehende Schriftsteller oder Redakteure, wir hoffen, dass unsere Übungen und Anleitungen Ihnen weiterhelfen.

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